Ich habe viele Jahre mit jemanden gelebt, der eine DIS hat. Die meiste Zeit hatte ich keine Ahnung, ich fand die Person halt sehr launisch, überemotional und unausgeglichen. Seine Problematik passte dann natürlich perfekt zu der meinen, die viele Jahre lang versuchte zu verstehen, zu beschwichtigen, zu gefallen, zu versorgen. Erst am Ende der Beziehung wurde das dann deutlich sichtbar, was ich damals als multiple Persönlichkeitsstörung kennenlernte und was heutzutage als DIS benannt wird. Ich fand multiple Persönlichkeit aber durchaus zutreffend, denn exakt das hatte ich vor mir gesehen, mehrere Personen in einem Körper.
Ich habe keine therapeutische Ausbildung, nur eigene Erlebnisse. Ich finde es seltsam, dass Lehrbücher einen Menschen zum Experten machen, gelebte Erfahrung jedoch nicht. Was jedoch bei der gelebten Erfahrung oft fehlt, und was Fachleute idealerweise haben, ist Abstand und damit einen größeren Überblick, auch durch die Vielzahl an Fällen.
Wobei Abstand hat man mit einer DIS auch. So viel, dass ein Teil nichts vom anderen weiß. Mir war nicht klar, dass auch ich eine DIS habe, was statistisch gesehen auch extrem unwahrscheinlich ist. Aber es war nicht die Statistik, sondern die Tatsache, dass ich keine Persönlichkeitswechsel in der Form erlebte, wie sie bei meinem Partner vorkamen. Ich habe viel besser als er funktioniert, meine Persönlichkeit schien deutlich stabiler. Ich konnte mich an meine Kindheit erinnern (dachte ich bis 2017) und ich war mir keiner fehlenden Zeit bewusst. Die Betonung liegt dabei auf dem letzten Wort im letzten Satz.
Ich habe mich mein ganzes Leben intensiv mit dem menschlichen Bewusstsein befasst, ich wollte schon immer wissen, wieso Menschen tun, was sie tun. Auch ohne Erinnerungen an sexuellen und rituellen Missbrauch hatte meine bewusste Alltagspersönlichkeit viele Formen von Übergriffen und Grenzüberschreitungen erinnert. Ich wollte wissen, was uns zu dem macht, was wir sind und wieso wir handeln, wie wir handeln. Ich wollte wissen, was die Menschen, die ich liebte, plötzlich in Monster verwandelte. Hingegen hatte ich mir aber viel zu lange nicht die Frage gestellt, wieso ich Monster liebte und was sich eigentlich in meinen eigenen Untiefen verbarg.
Alle Menschen besitzen meiner Meinung nach verschiedene Persönlichkeitsanteile. Auch als durchschnittlicher Mensch ohne DIS verhält man sich meist seinen Eltern gegenüber anders, als dem Nachbarn, dem Vorgesetzten oder Freunden. Alle Menschen rutschen in Rollen hinein; nun ja meine Theorie war stets: alle Menschen tun dies auch aus Konditionierung und emotionaler Verletzung heraus. Insofern dachte ich, alle seien wie ich, im Prinzip.
Der wesentliche Unterschied schien mir immer zu sein, dass ein Mensch mit einer DIS sich dieser verschiedenen Anteile nicht bewusst ist und deswegen für gewöhnlich auch keinen bewussten Zugriff auf sie hat. Im Gegensatz zum Programmierer und Handler, zu den Leuten, welche die DIS verursacht haben oder das Handbuch mit den Zugangscodes ausgehändigt bekamen. Diese haben das Wissen und damit die Kontrolle. So hatte ich es bei meinem ehemaligen Partner erlebt.
Der wesentliche Unterschied zwischen einem Durchschnittsmenschen und jemandem mit einer DIS dachte ich immer, ist die Abspaltung, durch die extremen Erlebnisse in sehr jungen Jahren.
Die Lösung scheint mir deshalb das Kennenlernen der anderen Anteile zu sein, die Bewusstwerdung, im Gegensatz zur Dissoziation. Keine einfache Aufgabe, denn wir begegnen dabei unseren schlimmsten Ängsten. Aber letztlich dürfen wir uns selbst nicht im Stich lassen, keinen Teil von uns, weder das verängstigte Kind, noch die scham- oder schuldbehaften Anteile. Anstatt die Monster in anderen zu besänftigen, will ich meine eigenen in Sicherheit lieben, falls das möglich ist.